Geschichte nicht sich selbst überlassen – für guten neuen Anfang in 2024

31.12.2023

„Es hatte, wieder einmal und wie so oft, das letzte Wort – das kleine Wort Trotzdem.“ Zwischen Dezember 1952 und Dezember 1953 veröffentlicht die Schweizer Illustrierte einmal im Monat ein „Naturgedicht“ von Erich Kästner: Jedes beschreibt einen anderen unserer zwölf Kalendermonate. Im Jahr 1954 dichtet der in Dresden geborene Schriftsteller, der am 23. Februar 2024 seinen 125. Geburtstag feiern würde, einen Monat Nr. 13 hinterher: „Wie säh er aus, wenn er sich wünschen ließe?“

Der „dreizehnte Monat“, der als Wunschmonat das Schönste und Beste unserer zwölf Monate zusammenbringen soll, hält der Wirklichkeit am Ende nicht stand: „Man macht, wir wissen’s, aus zwölf alten Bildern kein neues Bild.“

Und daher beginnt der Januar wie in jedem Jahr zwar neu, aber gleichzeitig in der bekannten Weise: „Amseln frieren“ und „Krähen darben“ – und mit dem menschlichen Traum von Frieden liegt auch schon wieder ein Traum „vom Kriege“ in der Luft. „Und werden kann nur, was schon immer war.“

Ist das so?

Silvester und das Neujahrsfest werden nicht von einem tiefen religiösen Anlass motiviert. Sie haben auch keinen hervorstechenden „Aufhänger“ im Kreislauf der Natur. Die Wintersonnenwende ist bei uns schon vorbei. Der Neujahrstag ist vielmehr ein Tag der menschlichen Verabredung, ausgehend von der römischen Zeitenordnung.

Weil der Neujahrstag wesentlich „menschengemacht“ ist, liegt es einmal mehr in unseren eigenen Händen, was daraus wird. Nur die Ausgelassenheit des Silvesterfestes mit den „Nachwehen“ zum Jahresbeginn und dann ein langer Januar, der so wenig verspricht? Oder der neue ernste Vorsatz, Routinen – „im Kreise geht die Reise“ – zu durchbrechen?

„Nein, in der Fülle der Veränderungen, die ja alle für sich genommen schon grundlegend und disruptiv [Ordnungen zerstörend] sind, habe ich eine solche Zeit noch nicht erlebt“. Dr. Wolfgang Schäuble, der am 26. Dezember 2023 von uns genommen wurde, hat in seinem wohl letzten Interview eine Zusammenballung von Krisen bestätigt, wie sie für uns ohne Vorbild ist: Sie „fallen zudem in eine Zeit, in der die Dominanz der westlichen Welt abnimmt, was die für uns ersichtlichen Gefahren nicht gerade kleiner macht“. Wie viel folglich liegt an dem ernsten Vorsatz in unseren Tagen!

Auch Erich Kästner, der seine Bücher im Mai 1933 in der deutschen Diktatur selbst hat verbrennen sehen, deutet in seinem „dreizehnten Monat“ auf das menschliche Vermögen, Kreisläufe, eine Wiederkehr von Gleichem, zu durchbrechen: „Drum schaff dich selbst! Aus unerhörten Tönen!“

Was seine Verse klangvoll verpacken, lässt sich alltagstauglich übersetzen: Gestalten wir mit unserem Willen und mit Entschlossenheit – aus geistiger und politischer Freiheit. Überlassen wir Geschichte keinen Zyklen. Sondern begreifen wir sie als Entwicklungsprozess zu mehr Gerechtigkeit unter den Menschen, mit der Hilfe Gottes.

„Was bleibt“, ist Herzschlag christlich-demokratischer Politik

„Die Menschen in Europa wollen frei zur Einheit finden“, hat Helmut Kohl den geschichtlichen Weg der Einigung in der europäischen Gemeinschaft, der heutigen EU, überdacht: „Der Schlüssel ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Der zu erschließende Freiheitsraum sind die Menschenrechte.“

Nach der atheistischen NS-Schreckensherrschaft war es die gemeinsame Entschlossenheit des Franzosen Robert Schuman, des Italieners Alcide De Gasperi, des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer und ihrer Verbündeter, die freien Völker in Europa auf der Grundlage des Glaubens an Gott zusammenzuführen. Mit den Grundwerten des christlichen Menschenbildes: Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität.

Eine einzigartige Friedensordnung ist daraus hervorgegangen. Ebenso das Wohlergehen im Binnenmarkt. Heute, im Zeitalter weltweiter Entgrenzungen, ist die Europäische Union Garant für die Interessen ihrer Bürgerinnen und Bürger. Sie schützt im Angesicht von Angriffen, die den Frieden auf dem eigenen Kontinent blutig verletzen. Sie verteidigt unsere Werte und sozialen Standards.

In einem Vorwort zu seinem gesammelten Werk „Die 13 Monate“ schreibt Erich Kästner, dass er während des Dichtens versucht habe, sich zu besinnen: „Denn man kann die Besinnung verlieren, aber man muss sie wiederfinden. Man müsste wieder spüren: Die Zeit vergeht, und sie dauert, und beides geschieht im gleichen Atemzug.“

Die Dauer – „was bleibt“ – ist Herzschlag christlich-demokratischer Politik. Sie unterscheidet sich durch ihr Geschichtsbewusstsein und ihre Zuversicht von anderen Überzeugungen, die nur das Zeitmaß irdischer Existenz gelten lassen – mit dem Maßstab der Selbstverwirklichung, mit dem trügerischen Selbstzweck von Geschichte.

Der Vorsatz zum gemeinsamen Neubeginn, jede friedliche Anstrengung für die Menschenwürde und die Menschenrechte: Nehmen wir die Lektionen der Geschichte für das Jahr 2024, in dem im Juni das Europäische Parlament neu gewählt wird, mit tätiger Kraft an. Entschlossen zu dem persönlichen Bekenntnis für den Frieden. Entschlossen dazu, die eigene Identität zu wahren und sie für das Suchen nach friedlichen Wegen in der ganzen Welt einzubringen. Entschlossen zu der offenherzigen Begegnung, in der gegenseitiger Dienst und Nächstenliebe erst lebendig werden. Entschlossen, reale und verlässliche Bindungen einzugehen.

Für das neue Jahr 2024 wünsche ich Gottes Segen, Gesundheit, gute Gedanken und Ideen – und zunächst aber einen sehr schönen, glücklichen Jahreswechsel!

Mit herzlichen Grüßen

Oliver Krauß